Eine ganz besondere Rolle spielte Wilhelm Nowack für die Thomaskirche in Straßburg, wie dem Nachruf auf ihn aus dem Jahre 1928 zu entnehmen war:
„Mit Friedrich Spitta (gestorben 1924) zusammen richtete Nowack I888 die monatlichen ademischen Gottestdienste in der Thomaskirche ein, in denen er zwanzig Jahre hindurch neben den beiden praktischen Theologen Spitta und Smend das Predigtamt versah“.
Als Diskussionredner – wie überhaupt als Gelegenheitsredner war er glänzend, an Schlagfertigkeit und dialektischer Gewandheit jedem überlegen; die nicht selten ätzende Schärfe seiner Polemik schuf ihm allerdings viele Gegner. Zumal im Oberkonsistorium, der gesetzgebenden Versammlung der elsässischen Kirche Augsburger Konfession, dem er zunächst sechs Jahre als Vertreter der Fakultät angehörte, hatte er dank diesen Eigenschaften bald eine bedeutende Stellung.
So erlebte er die Anerkennung nach Ablauf dieser Zeit 1903 von den Pfarrern und Laienvertretern der Inspektion St. Thomas weiter in das Oberkonsistorium gewählt und 1913 von dieser Versammlurg in das Direktorium, die aus fünf Mitgliedern bestehende Kirchenregierung, delegiert zu werden.“[Anrich a.a.O.]
Die Thomaskirche und der angrenzende Thomas-Stift in Straßburg, aus dem 6. Jahrhundert stammend, wurde als die zentrale evangelische Kirche im Elsaß der Lebensmittelpunkt für den Theologen Wilhelm Nowack. Die Theologische Fakultät der Universität Straßburg war zunächst in den Räumen des Thomasstiftes. Hier lernten und lebten die Studenten. Und auch das Pfarrhaus der Thomaskirche war in diesen Gebäuden. In einer Wohnung lebte der Pfarrer, Theologe und Kirchenpolitiker Wilhelm Nowack. Hier wuchsen seine Kinder auf.
Während sich die Aktivitäten in der Organisation der Universität um die Theologische Fakultät, die eigenen Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten drehten, waren die Aktivitäten im Thomas-Stift anderer Natur. Ergänzt und erweitert wurden sie durch seine (kirchen-)politischen Ambitionen. Gleichwohl forderten aber auch sie das Organisationstalent und den Gestaltungswillen von Nowack.
Die Arbeit für den Thomas-Stift und für die Kirche insgesamt lassen sich getrennt kaum darstellen, weil sie oftmals ineinandergreifend waren. Gustav Anrich beschreibt seine Rolle im Stift:
„Ein Meister war Nowack vor allem auf dem Gebiete der Verwaltung und der Geschäftsführung, wobei ihn durchdringende Menschenkenntnis unterstützte. Umfassend vermochte er diese Gaben zu betätigen, als er 1895 als zweitältester Theologe in das Kapitel des Thomasstiftes eintrat, dem die Verwaltung des großen alten Stiftungsvermögens obliegt und das Protestantische Gymnasium untersteht.
Mehrere Jahre geschäftsführender Direktor dieses Kapitels hat er in mühevoller persönlicher Mitarbeit Verwaltung und Finanzen in bessere Ordnung gebracht und in scharfem Ringen mit der Regierung wegen des sich unbillig auswirkenden Thomasstiftsgesetzes von 1873 wenigstens einen halben Sieg errungen.
Daneben hat er lange Jahre als „Gymnasiarch“ die Oberaufsicht über Verwaltung und Personal des Protestantischen Gymnasiums in Händen gehabt, ebenso seit 1905 als Ephorus der Verwaltungskommission des Theologischen Studienstiftes vorgestanden.“ [Quelle: Deutsches Biographisches Jahrbuch 1928]
Hernie Strohl schreibt in seinem Standardwerk „Le protestantisme en Alsace“:
„Er [Nowack] wollte auch eine Rolle in der Kirche spielen und es gelang ihm in den Kirchengemeinderat von St. Thomas zu kommen und in Stift und Ober-Konsistorium („chapitre et consistoire supérieur“) berufen zu werden.
Um die Sympathie der Elsässer zu gewinnen war er ein glühender Verteidiger der Hauptaufgabe des „Chapitre“, der Ausbildung am „gymnase“, bis er von der Universtät mit einem Prozess bedroht wurde, da sie ihre Vorrechte übergangen sah.
Nach der Ernennung zum Ephorus „Ephore du Séminaire“ (eine Art Aufsicht) wollte er tatsächlich die Kontrolle über das Seminar. Er ließ den Posten des Nachfolgers von Erichson, Anrich, durch einen Nachfolger mit einem niedrigeren Statut (statt „directeur à demeure“ ein „candidat à la license“) besetzen, den er täglich überwachen wollte.
Als „Überwacher“ war er ein wenig der Schrecken der Studenten, die er bei schlechtem Lernen oder Ungehorsam grob durchrüttelte. Aber sein abschreckendes Verhalten war mehr der Ausdruck seines festen Willens, Diener der Kirche zu formen, die arbeiten konnten und sich nicht vor Schwierigkeiten drückten.“ [Quelle: Henri Strohl, Le protestantisme en Alsace, Neuauflage, 2000, S. 417; Übersetzung: Gerhard Göltz]
Albert Schweitzer und Wilhelm Nowack
Nowack als strenger Erzieher – hiervon berichtet Albert Schweitzer in seinen Briefen an seine Freundin und spätere Frau Helene Bresslau an einigen Stellen. Und Schweitzer erwähnt in diesem Zusammenhang auch die – von Strohl benannten - Eifersüchteleien zwischen Universität und Thomasstift.
Albert Schweitzer, Student von Wilhelm Nowack und ihm sowohl verbunden als auch - als jüngerer Theologe - widerspenstig gegenüber der Allmacht von Nowack schrieb am 5.7.1904 an Helene Bresslau:
„Wissen Sie, dass ich mich in die Kirchenpolitik einmsche? Ich wollte es nicht, denn Intrigen sind nicht meine Sache, aber jetzt ist es soweit, dass der Liberalismus im Elsaß in schwerer Gefahr ist...Das erste was ich getan habe: ich habe Nowack übel mitgespielt, der sicher war, in das Direktorium der Landeskirche gewählt zu werden, und wahrscheinlich eine Niederlage wird einstecken müssen, weil ich erklärt habe, dass wir Jüngeren ihn nicht wollen. Da hat der Privatdozent [Schweitzer] gegen den Faklutätsältesten [Nowack] intrigiert.
Ich habe meine Pflicht getan, denn Nowack überall, das wäre ein Unglück; schon jetzt steckt er seine Nase in alles, was ihn nichts angeht, und außerdem hat er keinerlei Idealismus mehr, ist einzig daran interessiert, überall dabei zu sein. Das ist die erste Schlacht in dem langen Krieg, der zwischen ihm und mir ausbrechen wird. Ich trete ganz ruhig in diesen Krieg ein, denn ich habe keine persönliche Antipathie. Ich mische mich in all das ein und hindere ihn, weiterzumachen, denn es muß sein, zum Wohl unserer Kirche“
Es gab keinen Krieg, aber immer wieder Reibereien auch mit der Universität. So schrieb er 1905:
“Ja, wenn ich meinen Plan verwirklichen und gleichzeitig im Stift Pfarrer ausbilden könnte. Ich bin ja glücklich im Stift, denn ich kann dort Gutes tun, und Nowack respektiert mich innerlich, aber der Rest?”.
Nur drei Monate später ist es offenbar notwendig, dass Nowack in seiner Rolle als Stiftsdirektor Schweitzer bremst, um die Beziehungen zur Universität nicht zu stören. Schweitzer schreibt an seine Freundin Helene Bresslau:
“Heute nachmittag hatte ich eine Besprechung mit Nowack, in der er mir sagte, daß ich den Nachhilfestunden, die ich im Stift gebe, zu viel Bedeutung beimesse und daß die Fakultät das sehr ungern sieht; daß ich Examenspaukerei treibe! und daß ich mich ganz einfach darauf beschränken soll, Griechisch und Hebräisch zu unterrichten. Ich habe lächelnd zugehört.
Der ganze Studienplan, den ich mir gemacht hatte, fiel in wenigen Sekunden in sich zusammen: Wieder einmal die Eifersucht der Fakultät, die mir nicht erlauben will, ein schlechter Schulmeister im Stift zu sein. Man zwingt mich,nur meine Pflicht zu tun, ausschließlich meine Pflicht. Ich habe ihn ohne Bitterkeit angehört; und so habe ich ihm auch geantwortet...
Es hat keinen Zweck: Die Fakultät befürchtet, daß ich Einfluß auf die Studenten nehme.Und ich sah mich im Traum als Erzieher der elsässischen Pfarrerschaft! Ich gebe ein Stück nach dem anderen von diesem Traum auf. - Ich hatte das Gefühl, als N.[Nowack] redete, wie ein Schiff auf dem Stapel, das leise erzittert, weil man einen Bolzen unter dem Kiel losschlug, und das weiß, noch einige Bolzen weg dann - fall ich nicht um, sondern gleite leicht und frei ins Meer. Und ich lächelte und er sagte sich: Wie freundlich er ist, dieser Aufsässige, der mich früher so in Wut gebracht hat; jetzt fügt er sich...” [Quelle: Die Jahre vor Lambarene, 1902-1912, von Albert Schweitzer, Helene Bresslau, Rhena Schweitzer-Miller, Gustav Woytt, 1992, S.71 ff.]
Trotz aller Reibereien zwischen alt und jung, zwischen Fakultät und Stift, zwischen Professor und Nachwuchs: Man war sich verbunden. Auf der Hochzeit von Nowacks Tochter Katharina Nowack mit Hermann Torhorst drei Jahre später, am 28. Juli 1908, spielte Albert Schweitzer die Silbermann-Orgel in der Thomaskirche zu Straßburg. Später besuchte Schweitzer die beiden bei seinen Konzert-Reisen durch Deutschland mehrfach auch in Wuppertal-Barmen, wo er bei ihnen, seinen früheren Straßburger Studienkollegen übernachtete..
Wilhelm Nowack war auch an wesentlichen Veränderungen der Gottesdienstordnung beteiligt. Gustav Anrich berichtet [Quelle: Deutsches Biographisches Jahrbuch 1928]in seinem Nachruf auf Nowack darüber. Alle diese Veränderungen fanden in der Thomaskirche statt:
„Neben Wilhelm Nowack wirkten als Extraordinarien Karl Budde (1889-1900), Georg Beer (bis 1910) und Friedrich Küchler (bis 1918), der erstere schon nach einem halben Jahr als persönlicher Ordinarius.
Mit Friedrich Spitta (gestorben 1924) zusammen richtete Nowack I888 die monatlichen ademischen Gottesdienste in der Thomaskirche ein, in denen er zwanzig Jahre hindurch neben den beiden praktischen Theologen Spitta und Smend das Predigtamt versah.” [Quelle: Deutsches Biographisches Jahrbuch 1928]
In dem bereits zitierten Nachruf von 1928 schreibt Gustav Anrich:
„Welche Fülle von Aufgaben war damit schließlich auf seine Schultern gelegt: Senior der Fakultät, Mitglied der Kirchenregierung und der Ersten Kammer, Direktor des Thomaskapitels, Gymnasiarch, Ephorus des Studienstiftes; er war beinahe ein mächtiger, gelegentlich auch gefürchteter Mann geworden. Was ihn alles nicht hinderte, sich in den Kriegsjahren noch hingebender schlichter Lazarettseelsorge hinzugeben.” [Quelle: Deutsches Biographisches Jahrbuch 1928]
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