Mit Hilfe der Fotos und der vorliegenden Dokumentation über die Adlerapotheke lassen sich die Lage der Hauses an der Fuldabrücke und Teile der Geschichte der Adlerapotheke beschreiben bzw. rekonstruieren, obwohl das Haus beim Bombenangriff auf Kassel am 22. Oktober 1943 wie das gesamte Altkassel zerstört wurde. Eine Apotheke unter gleichem Namen befand sich 2007 in der Innenstadt vonn Kassel.
Im Jahre 1976 jährte sich die Gründung der Adlerapotheke zum 200.Male. Aus diesem Anlass hat der damalige Besitzer, Dr. Rudolph Schaller, eine kleine Dokumentation in Broschürenform veröffentlicht. Aufgrund der im Jahre 2007 erfolgten Kontaktaufnahme des Autors mit dem Besitzer der Adlerapotheke, Herrn Dr. Rudolf Herbke, wurde diese sehr gründliche Darstellung dem Autor zur Auswertung überlassen. Sie basierte sehr weitgehend auf einer Ausarbeitung, die im Jahre 1931 von Karl Freitag, dessen weitere Funktion unbekannt ist, u.a. anhand von Dokumenten aus dem Staatsarchiv Marburg gefertigt wurde. Darin enthalten die Passage zur Übernahme der Adlerapotheke durch Wilhelm Thomas
“Nach dem Bescheid K. Regierung vom 10. März 1883 „ist das dem Apotheker = Inhaber zustehende Realrecht unter der neuen Bezeichnung: „Adler = Apotheke“ in das Grundbuch eingetragen worden.“Am 7. Mai 1894 ist der Apotheken-Besitzer Seitz gestorben. Sein seitheriger Gehilfe Georg Behre hat im Auftrage der Witwe die Geschäftsführung übernommen. Nach dessen Rücktritt ab 1. Oktober 1894 [tritt] der Apotheker Friedrich. Wilhelm Ritter aus Oberkaufungen an die Stelle. Am 1. März 1895 wurde die priv. „Adler = Apotheke“ von dem Apotheker Wilhelm Thomas aus Wiesbaden für einen Kaufpreis von 215.000 M. erworben.”
Die Zulassung
Eine Apotheke kann auch am Ende des 19. Jahrhunderts nicht so einfach mal eben gekauft und verkauft werden. Es bedarf staatlicher Genehmigung, eine Apotheke zu führen, damit alles eine Ordnung hat. Im Interesse der Kunden ist dies sicherlich sehr angemessen. Das Stadtarchiv Kassel verfügt über die Kopie des behördlichen Vorgangs, den Wilhelm Thomas mit seinem Antrag auf Konzession ausgelöst hat.
„Königliche Regierung AII Nr. 1785 Cassel, den 1. März 1895Nachdem der Apotheker Wilhelm Thomas aus Wiesbaden angezeigt, dass er die Seitz’sche Apotheke hierselbst durch Kaufvertrag vom 30./31. Dezember 1894 am 1. d.Mts. übernommen und mir die diesbezügliche Kaufvertragsabschrift zur Einsicht vorgelegt hat, habe ich gegen die käufliche Übernahme der gen. Apotheke seitens des g.Thomas nichts einzuwenden. Eur. Hochwohlgeboren wollen den g. Thomas unter Rückgabe der Kaufvertragsabschrift hiervon gefälligst benachrichtigen und ihn auffordern, sich alsbald bei dem Königlichen Polizei-Präsidenten Herrn Grafen Königsdorff hierselbst durch Handschlag eidlich verpflichten zu lassen. Die Personalien des Herrn Thomas sind mir demnächst mitzuteilen.
An den Königlichen Kreisphysikus Herrn Geheimen Sanitätsrath Dr. Gießler Hochwohlgeboren hier....Abschrift erhalten Eur. Hochgeboren zur gefälligen Kenntnisnahme mit dem Ersuchen verknüpft, den Apotheker Wilhelm Thomas aus Wiesbaden, jetzt in Cassel wohnhaft durch Handschlag auf den bereits geleisteten Eid verpflichten, den Vermerk über die geschehene Verpflichtung hinter dem Approbationsschein einzutragen und die bezügliche Verhandlung mir demnächst gefälligst vorzulegen. Der Regierungspräsident“ [Die Kopie enthält weitere, schlecht lesbar Vollzugsnotizen].
Nur wenige Tage nach dem Eintrag in die Meldeakte der Stadt Kassel, am 9. März 1895, erneuerte Wilhelm Thomas seinen Approbationseid nunmehr wie gefordert für Kassel. Die Notiz ist auf der Rückseite (s. links) seiner Approbationsurkunde vom 15. Juli 1874 wie folgt vermerkt: „Herr Apotheker Wilhelm Thomas ist unter Verweisung auf den als Apotheker bereits geleisteten Eid heute nochmals mittels Handschlags an Eidestatt verpflichtet worden. Cassel, den 9. März 1895, Der Königliche Polizei Präsident, i.V. Unterschrift“.
Konkurrenz droht
Über die ersten Jahre in der Apotheke ist [] nichts bekannt. Das erste richtige Problem ergab sich gleich zu Beginn des neuen Jahrtausends, im Januar 1900. In einem dreiseitigen „Umschlag“ der königlichen Polizeidirektion zu Cassel zum „Original-Ersuchen des königlichen Landrathsamtes, hier, vom 8. Januar 1900 Journal Nummer 121 betreffend Einrichtung einer Apotheke in Bettenhausen“ wird die „Vernehmung der betheiligten Apotheker und Einziehung der Äußerung des Königlichen Kreisphysikus der Stadt“ verfügt. Der Antrag selbst wurde wohl am 14. Dezember 1899 eingereicht. Ingrid Kraus berichtet in ihrer Dissertation über die Apotheken in Kassel aufgrund einschlägiger Dokumente:
„Durch die große Bautätigkeit, besonders in den Stadtrandbezirken, erlebte auch die Adler-Apotheke einen beachtlichen Aufschwung. Daraufhin beantragte 1895 Isaac Goldberg die Genehmigung für eine Apotheke in dem an die Unterneustadt angrenzenden, aber noch nicht eingemeindeten Bettenhausen.
Die weiteren Zeugnisse berichten von weiteren Verfügungen und für den 19.Januar 1900: „Eine Äußerung des Besitzers der Adler-Apotheke ist beigefügt.“ Unter dem 21. Januar 1900 heißt es: „ Die ganze Agitation für die Errichtung einer Apotheke in Bettenhausen soll vom ...Sinng ausgehen, bei dem der dorthin gezogene 2! Arzt Wohnung genommen hat“.
Schließlich wird am 3. Februar abschließend notiert, dass die Stellungnahme des Kreisphysikus und die Stellungnahmen der Apothekenbesitzer Thomas und Tillmann zurückgegeben wurden. Die Äußerungen der Apotheker sind nicht dokumentiert, wohl aber die Äußerung des Kreisphysikus, die als Abschrift bei den Akten verblieben war und somit erhalten werden konnte:
„Mit dem ergebensten Erwidern zurück, dass zweifellos die Hirschapotheke und die neue Adlerapotheke durch die Einrichtung einer Apotheke zu Bettenhausen schwer geschädigt werden, dass m.E. die letztere, wenn ihr Absatzgebiet auf die Ortschaften zum großen Theil in Wegfall käme und sie nur auf die Unterneustadt angewiesen sein würde, sogar in ihrer weiteren Existenzfähigkeit bedroht wäre. Die neue Adlerapotheke hat den geringsten Geschäftsumsatz von allen hiesigen Apotheken und ist im Verhältnis zu diesen ziemlich teuer erworben worden. Dem p. Thomas muß die Anerkennung zu Theil werden, dass er sein Geschäft stets mit Sorgfalt geführt hat, dass er aber, soviel mir bekannt, eine wesentliche Erhöhung des Geschäftsumsatzes nicht herbeiführen konnte. Die Hirschapotheke ist in der That bei dem letzten Besitzerwechsel (vor einigen Monaten) nicht unwesentlich im Preise zurückgegangen, was nur auf den verminderten Umsatz zurückgeführt werden muß. Die Entfernung von Bettenhausen und den beiden oben genannten Apotheken ist in der Thate nur so klein, und die Verbindung dieses Ortes mit der Stadt um so günstiger, dass hieraus nicht das Bedürfnis der Neuanlage einer Apotheke zu Bettenhausen hergeleitet werden kann. – Wenn man diese Anlage durch das Praktizieren von 2 Ärzten in dem Orte begründen will, so ist das meines Erachtens nicht zutreffend. Die Zahl der Ärzte hat sich in den letzten 10 Jahren so außerordentlich vergrößert, dass jetzt an Orten, wo früher kein Arzt war, sich ein solcher niedergelassen hat und von anderen, wo einer sein besseres Auskommen hatte, jetzt 2-3 praktizieren. Ich bezweifele nicht, dass, wenn ein Rückschlag eintritt, und der muß meines Erachtens unausweichlich sein, auch hier Änderungen hoffentlich in nicht zur ferner Zeit eintreten werden. Die Niederlassung eines 2. Arztes in Bettenhausen entspricht auf keinen Fall dem Bedürfnis. Das Absatzgebiet einer in Bettenhausen zu errichtenden Apotheke ist nach meiner Ansicht auch sehr wenig zuverlässig angegeben; es sind hier Ortschaften ins Bereich bezogen, die zweifellos ihren Arzneibezug aus anderen Apotheken (Kaufungen und Münden) haben, und einige die (hier würde namentlich auch noch in Frage kommen, in welchem Theile der Orte die Apotheke errichtet werden soll) in Cassel die nähere Bezugsquelle haben. Nach meinem Dafürhalten müsste das Gesuch abschlägig beschieden werden“ [Quelle: Hessisches Staatsarchiv Marburg]
Es dauerte noch eine ganze Zeit, bis es zu einem Bescheid des Regierungspräsidiums in Kassel an das Landrathsamt kam. Erst am 10. Juni 1900 ging das Schreiben „Auf die Eingaben vom 14. Dezember des Jahres Nr. 2163 an den Bürgermeister von Bettenhausen heraus: „Der Herr Oberpräsident hat mich beauftragt Ihren Antrag auf Errichtung einer Apotheke in Bettenhausen abzulehnen, da ein dringendes Bedürfniß hierzu zur Zeit nicht vorliegt. Um aber den Interessen der Einwohner Bettenhausens und der übrigen in Betracht kommenden Ortschaften Rechnung zu tragen, habe ich den Besitzer der Adlerapotheke p. Thomas hierselbst seinem Vorschlage gemäß mit der Errichtung zweier Annahmestellen von Rezepten in Bettenhausen beauftragt und zwar die eine in der Nähe der Fabrik der Firma Salzmann & Cie., die andere etwa am Endpunkte der elektrischen Bahn. Das Abholen der Rezepte resp. das Überbringen der Arzneien pp. Hat 3 mal täglich sowie auch auf besondere telefonische Bestellung durch einen Laufburschen des p. Thomas zu erfolgen.
Der Verkauf der Apotheke
Wegen Einrichtung dieser Annahmestellen wollen Sie sich mit dem Besitzer der Adlerapotheke p. Thomas hierselbst alsbald in Verbindung setzen. Die Vorstände der Papier- und Papierstofffabrik zu Niederkaufunden und der Aktiengesellschaft für Treber-Trocknung dortselbst sowie die Bürgermeisterzu Heiligenrode, Sandershausen, Ochshausen und Vollmarshausen, welche gleiche Gesuche an mich gerichtet hatten, wollen Sie hiervon in Kenntnis setzt. Trott zu Solz [Quelle: Hessisches Staatsarchiv Marburg].
Man kann nur ahnen, welchen Kraftakt Wilhelm Thomas hier vollbringen musste, um die Konkurrenz abzuwehren. Man musste Zahlen offen legen, Alternativen berechnen und die Interessen der Antragsteller intelligent ins Leere laufen lassen. Das wird kein fröhliches halbes Jahr zu Beginn des neuen Jahrtausends gewesen sein.
Man kann aber auch ahnen, dass Thomas sehr erfolgreich kommuniziert haben muss, denn das Ergebnis hätte auch anders aussehen können. Denn: Der Zuwachs an Bevölkerung ist zweifellos groß gewesen und es wird ja auch deutlich, dass der ablehnende Bescheid nur von einem dringenden Bedürfnis sprach, dass „zur Zeit“ nicht gegeben sei.
Vielleicht aber wurde in diesen Tagen der Beschluss vorbereitet, die Apotheke in nicht allzu ferner Zukunft zu verkaufen. Immerhin: Die elektrische Straßenbahn fuhr bereits die Menschen über die Fuldabrücke hinweg und an der Apotheke vorbei in die neuen schnell wachsenden Stadtteile. Es mag Thomas geholfen haben, dass er standespolitisch sehr aktiv war. Es mag aber ebenso sein, dass er dieses Engagement bereits auch im Hinblick auf seine eigene Konkurrenzsituation eingegangen ist. Wer mitmischt, kann auch Einfluß nehmen.
Welche Aufgaben Wilhelm Thomas und seine Apothekerkollegen in den ersten Jahren besonders beschäftigten, ist nicht bekannt, weil dazu keine Unterlagen vorliegen. Als politisch engagierter Mitbürger, etwa als Stadtverordneter o.dgl. ist Wilhelm Thomas nach Auskunft des Stadtarchivars Klaube [2007] nicht in Erscheinung getreten. Aber sein Engagement als Standesvertreter lässt sich anhand der Dokumente recht gut nachzeichnen und damit auch einige der Sorgen, die einen Apotheker in jener Zeit umtrieben.
Am 1. April 1904 endete die Tätigkeit von Wilhelm Thomas für die Adler-Apotheke in Kassel.
Er hatte verkauft - für 305.000 Mark den Apotheker Emil Traugott Gebhardt, der nach den Akten des Polizeipräsidenten am 16. April darum bat, seinen Eid leisten zu dürfen. Dies geschah dann am 28. April 1904, wie die nebenstehende Urkunde aus dem Hessischen Staatsarchiv Marburg belegt.
Nachdem er knapp zehn Jahre zuvor 215.000 Mark hatte bezahlen müssen, ergibt sich auch bei Berücksichtigung von allgemeinen Lebenshaltungskosten, mit 305.000 Mark ein gutes Ergebnis.
Um sich die Größenordnungen der Summe vorstellen zu können, muss man sich die Kaufkraft der Reichsmark oder genauer Goldmark vor Augen führen.
Die Periode der Goldmark war offensichtlich von 1971 bis 1914 relativ geldwertstabil, was seine Ursache darin hatte, dass das Papiergeld durch Gold gedeckt sein musste. Der Inflationsindex lag zwischen 1871 und 1895 bei etwa Null Prozent. Erst ab 1896, also ab dem ersten vollen Jahr von Wilhelm Thomas in Kassel, stiegen die Preise offenbar langsam, aber stetig an, wie es in einer Untersuchung stand. Die Ursachen liegen in der Industrialisierung, den Aufrüstungen und der Hebung des allgemeinen Wohlstands. Das Hamburger Staatsarchiv hat in Verbindung mit dem Statistischen Bundesamt eine – natürlich sehr relative, weil zeitliche Entwicklungen ignorierende Durchschnittswerte, aber eben doch anschauliche – Berechnung angestellt, um den Menschen des 21. Jahrhunderts die Geldsituation im Deutschen Reich deutlich zu machen.
1 Goldmark entsprach in den Jahren 1873-1899 durchschnittlich 17,82 Euro 1900-1912 durchschnittlich 9,35 Euro
Man kann also sagen, dass Wilhelm Thomas und seine Frau Bertha, rechnet man die zeitlichen Entwicklungslinien ein, zumindest keinen Verlust gemacht haben dürften. Aber: Zwanzig Jahre später war durch Krieg und Inflation das Altersgeld weitgehend vernichtet.
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